Kein Einstieg, kein Ausstieg: Erfahrungen in einem buddhistischen Zen-Verein

Der Titel bezieht sich auf den wieder gelöschten Erfahrungsbericht: „Einstieg und Ausstieg: Die Geschichte meiner Sektenerfahrung“. Im Unterschied zu diesem verwende ich den Begriff “Sekte“ nicht, unabhängig von dessen Doppelbedeutung.

Es ist mein Anliegen, Erfahrungen als Mitglied eines eingetragenen – durch das Vereinsregister beim Amtsgericht bis heute als grundgesetzkonform legitimierten – Vereins zu beschreiben. Dabei wahre ich größtmögliche Anonymität auf allen Seiten. Eingangs möchte ich betonen, dass es sich um einen nicht zu verallgemeinernden, persönlichen Erfahrungsbericht und subjektive Wertungen aufgrund meines jetzigen Erkenntnisstandes handelt, ohne Anspruch auf einen objektivierbaren Wahrheitsanspruch. Es steht dem Leser frei, Vergleiche mit anderen Vereinen vorzunehmen, eigene Wertungen zu bilden und diese hier zur Diskussion zu stellen.

Noch eine Bemerkung vorab: Ich verstehe mich nicht als (Sekten-)Opfer, noch wurde ich wissentlich als Täter tätig. Dieses war nur möglich, da ich, zwischen „Vertrauen“ und „blindem Glauben“ unterscheidend, emotionale und existenzielle Abhängigkeiten bewusst verhindert habe. Das bezeichne ich mit „Kein Einstieg“ (I).

Wegen meiner damaligen Außenseiterposition kann ich die wirklich erschreckenden Erfahrungen, die mir im Nachhinein von Zen-Gefährten glaubhaft mitgeteilt wurden, nicht aus eigenem Erleben bestätigen. Das Schlimmste, was mir unmittelbar erfahrbar gewesen ist, war die Tatsache, dass persönliche Abhängigkeiten ausgenutzt wurden, Übende dazu zu missbrauchen, selbst aktiv missbräuchlich, also unheilsam zu agieren. Dies wurde auch als Notwendigkeit „Verantwortung zu übernehmen“ legitimiert. Davon Betroffene können/wollen selbst Jahre nach ihrem Austritt aus dem Verein nicht öffentlich davon berichten.

Eben dies hat mich veranlasst, am scheinbar wenig spektakulären Beispiel meines Vereinsausschlusses, das unheilvolle Wirken solchen Machtmissbrauchs zu beschreiben.

II
Kein Ausstieg

2001: Infolge des Bruchs der Großen Koalition aus CDU und SPD im Berliner Senat wegen des Bankenskandals, demokratisch legitimiert mittels vorgezogener Neuwahlen am 21. Oktober 2001, avancierte die PDS als Nachfolgepartei der SED (mit 22,6 %) zum neuen Regierungspartner der SPD (mit 29,7 %).

Nach dem folgenden Jahreswechsel, während einer Abendsitzzeit, erhob der Zen-Meister (ZM) ein an einem Holzstiel befestigtes Transparent und kündigte eine Mahnwache am Abgeordnetenhaus zum 17. Januar an, dem Tag, da die neue Regierungskoalition ihre Arbeit aufnehmen würde. Auf dem Plakat war der Kopf von Gregor Gysi als eine Art Gespenster-Karikatur zu sehen. Dem nicht genug, wurde diese – in meiner Wahrnehmung – inhaltliche wie ästhetische Peinlichkeit noch zur weiteren Verdeutlichung der ohnehin unmissverständlichen Botschaft in Großbuchstaben kommentiert: „Menschen! Hört die Signale! Ist es schon vergessen? Selbstachtung erträgt keinen PDSED-Un-Geist!“ – Wobei das „es“, von Stacheldraht umschlungen, aus angedeuteten Mauersteinen zusammengesetzt war.

Beim Anblick dieses Plakates in den Händen des spirituellen Führers der Zen-Gruppe war ich bereits aus dem Verein, in dem ich fast fünf Jahre zuweilen beinahe täglich Zazen geübt hatte, (zumindest geistig) ausgetreten. Das anschließende Teishō geriet zu einer Hetztirade und gipfelte in der nicht diskutierbaren Forderung nach einer klaren Entscheidung, was nach meiner Erfahrung bedeutete, dass alle diese Mahnwache zu unterstützen hätten, durch ihre Teilnahme, durch Geldspenden oder diverse Vorbereitungsarbeiten.

Wieder zu Hause, versuchte ich zu verstehen, weshalb sich ZM als Folge einer, bei selbst geringer Kenntnis der aktuellen politischen Situation der Stadt zu erwartenden, unvermeidlichen und notwendigen Veränderung der Machtverhältnisse, einer Rhetorik bediente, die mich an die Zeit des Kalten Krieges erinnerte. Vor allem irritierte mich sein, zumindest für mich bedenkenswertes Demokratieverständnis.

Ich erinnerte mich seiner Erzählung von der Vertreibung und einer traumatischen zweijährigen Flucht im Treck als kleines Kind. Auch die Familien meiner Eltern sind Flüchtlinge aus Oberschlesien, und die psychischen und körperlichen Schädigungen begleiteten einige meiner Verwandten lebenslänglich. Diese, in einer ehemals berechtigten, weil kriegsbedingten Angstvorstellung („Die Russen kommen!“) begründete, bis heute anhaltende Kommunisten/Sozialisten-Phobie, prägt noch verbreitet konservatives Denken und Handeln. Auch dies ist eine politische Realität des wiedervereinten Deutschlands und erfordert zumindest die Achtung vor dem Schicksal Einzelner.

Nur deshalb schrieb ich keine Austrittserklärung, sondern fuhr am nächsten Tag wie sonst auch zum Morgen-Zazen. Dort sprach niemand mit mir. Auch ich hatte keinen Bedarf danach, aber für eine Sitzzeit waren wir ein letztes Mal im gemeinsamen Zazen vereint. Daheim erwartete mich das Blinken des Anrufbeantworters. Der Vorstandsvorsitzende (VV) des Vereins teilte mir mit, dass in dieser Woche kein Zazen in (…) mehr sei. – ZM hatte, um, wie er selbst es bezeichnete, „die Einheit von Ursache und Wirkung zur Geltung zu bringen“, prompt reagiert.

Man hatte mir also „die Instrumente gezeigt“. Die uneindeutige Sprache, in der dies geschah, war ich inzwischen gewohnt. Eine klare Aussage: „Du hast Sitzverbot!“ wäre ein Verstoß gegen die Vereinssatzung durch den VV, die Behauptung, die Zendō sei geschlossen, wäre eine Lüge gewesen.

Jeder kommunikative Akt hat mindestens zwei Ebenen: die Informations- und die Beziehungsebene. Hierdurch ist es möglich, bei einer zweideutigen Aussage auf der Informationsebene, die Beziehungsebene zugleich verdeckt und dennoch um so deutlicher mit Bedeutung aufzuladen. Es zwingt den davon Betroffenen, „zwischen den Zeilen“ zu lesen. Vor allem provoziert es, da eine klare, offene Information vorenthalten wird, eine Projektion eigener Wünsche, Ängste usw. Wann und wo immer ich dieser Art der Ansprache begegnete, wurde sie, wenn nicht subversiv von unten, dann aus einer Machtposition heraus, missbräuchlich eingesetzt.

In der DDR sozialisiert, also diktaturgeübt, wäre meine übliche Reaktion gewesen, zum nächsten Morgen-Zazen an der Zendō zu erscheinen und mein Erstaunen darüber auszudrücken, dass ja doch Zazen stattfände, verbunden mit dem Hinweis auf meine satzungsmäßigen Rechte als Vereinsmitglied und der Forderung nach einem juristisch verwertbaren schriftlichen Hausverbot oder freiem Zutritt.

Doch seit den Erfahrungen des Vorabends waren derartige Spielchen für mich vorbei. Mir ging es nur noch um die Aufklärung der Tiefe des „Sumpfes“, aus dem diese Lotosblüte wuchs. Von nun an stellte ich die Vertrauensfrage immer von Neuem, und immer von Neuem wurde ich – im negativen Sinn – nicht enttäuscht. Ein Synonym für Aufklärung ist bekanntlich Ent-Täuschung.

So beschloss ich, zu Hause zu bleiben, mich nicht provozieren zu lassen und den nächsten Schritt vereinsseitig abzuwarten. Zum Wochenende kam ein Brief. Der VV teilte mir mit, dass Anfang der nächsten Woche ein Gespräch über „die gemeinsame Beteiligung an der …“ stattfinden würde. Ich bedankte mich telefonisch bei ihm, für einen Augenblick tatsächlich erleichtert. Ich hatte es in diesem Verein noch nie erlebt, dass über ein Problem mit mir gesprochen wurde, im Allgemeinen erhielt ich die Ergebnisse einseitiger Entscheidungen mitgeteilt. Und so sagte ich zu dem VV, dass ich mich auf dieses Gespräch freuen würde.

Auf der Fahrt zu dem Gesprächstermin, zusammen mit einer inzwischen langjährigen Freundin, die ich in dem Verein kennengelernt hatte, sagte diese mir (aufgrund ihrer Diktaturerfahrungen) erschreckend genau voraus, was wir dort zu erwarten hätten. Auch sie war eingeladen worden. Wie ich später feststellte, hatte sich die Mehrzahl der Ostberliner Zen-Übenden (nach meiner Kenntnis 4 von 7), ohne Absprache untereinander, gegen eine Teilnahme entschieden.

„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ (R. Luxemburg)
An dem Gespräch waren, so meine Erinnerung, drei ostdeutsche „Andersdenkende“ und fünf oder sechs langjährige Vereinsmitglieder (der Vereinsvorstand und drei Schülerinnen/Nonnen) – alle altbundesrepublikanischer Herkunft – beteiligt.

Ein wirkliches Gespräch, geschweige denn ein gemeinsames, kam nicht zustande. Wie verurteilten Straftätern wurde uns ein letztes (erstes) Wort zugesprochen, das, so mein Eindruck, für das bereits feststehende „Strafmaß“ ohne Bedeutung blieb.

Berufsbedingt kann ich je nach Situation an der Stimme eines Menschen nicht nur hören, ob er lügt, sondern auch differenzieren, ob er es freiwillig tut, ob er sich beim Lügen selbst belügt, ob er sich dafür verachtet, dass er bereit ist, sich gegen besseres Wissen zu einer Lüge erpressen zu lassen oder ob ihm die ganze Sache gleichgültig ist, er sich belästigt fühlt und nur seinen Vorteil wahren will. Das alles gab es da als Mischung vor mir – auf der „anderen Seite“ (nach dem phantastischen Roman von Alfred Kubin: „Die andere Seite“).

Mir wurde bei der Erkenntnis übel, dass es schlicht hoffnungslos war, diesen Menschen, denen ich mich in Freundschaft und Dankbarkeit verbunden fühlte, bewusst zu machen, in welcher „Erleuchtungsfalle“ sie saßen.

(Ich hatte vergeblich versucht, das gleichnamige Buch von Klaus Horn aus Anlass der Gründung einer Bibliothek mit buddhistischer Literatur dem Verein zu schenken. Es wurde als „weniger geeignet“ mit einem verlegen-arroganten Lächeln zurückgewiesen.)

Meine Übelkeit eskalierte in einen Heulkrampf, und ich konnte kaum noch sprechen. Das schien – zumindest in meinem Fall – den pauschalen Vorwurf, noch immer (selbstverschuldete) Diktaturopfer ohne Selbstachtung zu sein, zu bestätigen. In Wirklichkeit musste ich gegen die Verachtung ankämpfen, die, ohne dass ich dies verhindern konnte, in mir aufstieg. Das also waren meine Zen-Gefährten, die kōangeschulte erste Garde des Meisters? Wenn man schon meint, das große Schwert schwingen zu können oder zu müssen, sollte dies frei von persönlichen Interessen, Skrupeln oder Abhängigkeiten sein. Sie aber verdeckten nicht nur Unbehagen, sondern auch Furcht hinter ihren zunehmend starren Masken. Sie, so mein damaliger Eindruck, ließen sich als Mittäter missbrauchen und verharrten zugleich selbstverleugnerisch in einer Opferrolle, die sie auf uns projizierten.

Inzwischen waren meine Freundin und der dritte ostdeutsche Zen-Freund bemüht, ihre Einschätzungen der Situation aus den Erfahrungen ihres Lebens glaub- und achtenswürdig zu begründen. Sie hatten vordem erklärt, dass sie die Entscheidung der Zen-Gefährten für diese Mahnwache respektierten und wollten nur, dass dies auch für sie gelte. (Das Wort Ent-Scheidung kann auch die Sinngebung “aufhören zu scheiden“ beinhalten.)

Ich hatte das bereits als aussichtslos aufgegeben und zwischen zwei ungebremsten Heulkrämpfen, es sollte ihnen schwer werden, ihre undankbaren Rollen durchzuhalten, fragte ich überraschend, weshalb sie denn nicht 89 mit in Ostberlin auf der Straße demonstriert oder wenigstens vom sicheren Westteil aus mit Plakaten ihre Solidarität bekundet hätten? Entsetztes Schweigen in der Runde. Nur eine der Nonnen, die später als eine der Ersten aus dem Verein austreten sollte, sagte sehr nachdenklich, dass sie sich das auch immer gefragt habe. Das Entsetzen in den Gesichtern der anderen war kaum zu steigern, welch eine Verfehlung: eigenständiges Denken und noch dazu öffentlich! Ich war erleichtert, zum ersten Mal hatte ich einen ehrlichen Ton, eine authentische Stimme gehört. Dies hätte der Ausgangspunkt für einen Erfahrungsaustausch auf Augenhöhe sein können.

VV begriff instinktiv die Gefahr, dass etwas außer Kontrolle geriet. Dafür würden sich alle verantworten müssen! Also beendete VV abrupt „mit einem Donnerschlag“ das Gespräch und verkündete lautstark, dass jedes weitere Sprechen doch zu nichts führen würde und wir nun, so der Beschluss, für ein halbes Jahr von allen Veranstaltungen des Vereins ausgeschlossen seien!

Soweit ich mich erinnern kann, gab es von „unserer Seite“ keinerlei Gegenwehr. Diese Art repressiver Gesprächsführung kannten wir aus der DDR zur Genüge. Der Abbruch des Gesprächs war zudem ein massiver Vertrauensbruch und die Aussperrung ein bewusster und unnötiger Verstoß gegen die Vereinssatzung durch den Vorstandsvorsitzenden. Hierzu gab es nichts mehr zu sagen. Mir fiel in diesem Moment noch die Zweitdeutigkeit des Ausdrucks „Vereinsveranstaltung“ auf, obwohl auch dies unrechtsmäßig war, wäre eine Auslegung möglich gewesen, nach der es dabei nur um zusätzliche Veranstaltungen außerhalb der Zazen-Übungszeiten gegangen wäre. Also lief ich schnell in den Vorraum der Zendō, als wollte ich diese für das abendliche Sitzen betreten, der VV rannte hinter mir her, um eben dies zu verhindern. Damit war klar, dass eine Aussperrung auch von der Zazen-Übung (dem in der Vereinssatzung erklärten Vereinszweck und somit einem Grundrecht aller Mitglieder) gemeint war.

Meine Freundin lachte mit vollem Recht auf der Rückfahrt über meine naiven Vorstellungen im Vorfeld des Gespräches. Sie hatte über ihren Austritt bereits davor entschieden. Auch der dritte „Delinquent“ und ein vierter Zen-Übender, der zu diesem Termin verhindert gewesen war, traten danach aus – ich nicht. Mir war der Verdacht gekommen, dass es sich bei dem Manöver um ein in dieser Gruppe üblicherweise erfolgreich praktiziertes Verfahren handeln könnte. Ich erlebte es als eine Form verdeckten Mobbings von oben, um Mitglieder hinauszudrängen und gleichzeitig die Verbleibenden (mittels Angst vor eigener Ausgrenzung) um so fester zu binden. Auch diesmal schien „es“ (auch ohne Mauer und Stacheldraht) wieder zu gelingen. Und es würde kommentarlos und unhinterfragt heißen, dass die Betreffenden sich entschieden hätten auszutreten. Alle würden es ohne Nachfrage akzeptieren, möglicherweise würden sie sich noch ein bisschen mehr als Elite wähnen – die nunmehr todesmutig und aufrecht die Fahne der Selbstachtung auf die Straße vor das Abgeordnetenhaus tragen würden.

„Selbstachtung“, wie alle wohlklingenden Begriffe ist auch dieser interessenabhängig interpretier-, ge- und missbrauchbar. Meine Selbstachtung erforderte es, das bisher gescheiterte „Projekt der Aufklärung“ fortzusetzen, in dem ich an der Mahnwache nicht teilnahm und zugleich nicht nicht teilnahm: Ich ging hin und filmte die Aktion, zumindest war dies meine Absicht.

Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, um nicht zu stören, nahm ich zuerst die Gruppe (22 Teilnehmer) auf, mit ihren Plakaten ordentlich „in Reihe und Glied“ auf dem Bürgersteig hin und her gehend bzw. stehend. Die Aktion fand in einer seitlich an das Abgeordnetenhaus angrenzenden, sehr breiten, unübersichtlichen Verbindungsstraße zum Potsdamer Platz statt und wirkte auf mich so lächerlich, wie sie wirkungslos war. Als ich etwas aus der Deckung hinter einem Auto hervortrat, um auf die Gesichter der einzelnen Personen zu zoomen, wurde ich entdeckt. Eine Zen-Gefährtin sah angststarr in meine Richtung. Ich konnte nicht einmal mehr auf den Auslöser drücken, so übertrug sich ihr Schrecken (in der Nahaufnahme beim Blick durch das Objektiv) auf mich. Hatte ich bei ihr durch die Entdeckung der Videoaufnahme diese Angst ausgelöst, lag die Ursache in der ernüchternden Realitätsberührung, in mangelnder Demonstrationserfahrung, oder war es ein über das Übliche hinaus gesteigerter Gruppendruck? In mir war keine Schadenfreude, nur Traurigkeit: Die Zen-Gefährten mussten wohl diese Erfahrung machen. Würden sie daraus lernen?

Da ich nicht provozieren wollte, ging ich nun gut sichtbar an allen vorbei und in die zur Bannmeile gehörende Straße vor dem Abgeordnetenhaus hinein. Dort filmte ich längere Zeit völlig unbehelligt die Alltäglichkeit dieser Stunde. Ein älteres Paar lief an mir vorbei. Sie öffneten ihre Mäntel und weiße Westen wurden sichtbar. Sie wirkten in ihrem Protest authentisch. Vielleicht war es eine Projektion meinerseits, weshalb ich darauf wartete, dass Mitglieder der Mahnwache wenigstens versuchen würden, sich an der Grenze der Bannmeile zu postieren oder sich nur für kurze Zeit dem Abgeordnetenhaus zu nähern, um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen?

Als nach etwa einer Stunde noch immer nichts passiert war, ging ich in die angrenzende Straße zurück, doch die Gruppe war bereits – wahrscheinlich wegen des Mangels an Aufmerksamkeit – zum Potsdamer Platz gezogen. Später las ich in der vereinseigenen Zeitschrift, dass man dort – als Staffage für eine Kunstaktion mit einer ausgestopften Kuh – doch noch beim Abendfernsehen Beachtung gefunden hatte.

Es vergingen einige Tage, da besuchte mich ein Zen-Gefährte unangekündigt, der, weil ähnlicher Herkunft wie meine Eltern, von diesen sehr gemocht wurde, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Er war eindeutig im Auftrag des ZM hier, aber sein ehrliches Bemühen, mir einen Aus- oder Rückweg zu zeigen, war deutlich spürbar. Er versuchte, mich dazu zu bewegen, ZM um ein Gespräch zu bitten. Leider sprach er zu wenig Deutsch. Ich konnte ihm nicht verständlich machen, dass es nach der willentlichen, satzungswidrigen Aussperrung nicht mehr um Verständigung ging, sondern um Unterwerfung und Gefolgschaft. Aber ich ließ ZM ausrichten, dass ich ihm eine Videokassette meiner Aufnahmen schicken würde, die ich eben noch zusammenschnitt. Dies sei mein Gesprächsangebot an ihn.

Wenige Tage nachdem ich die Kassette kommentarlos in den Briefkasten der Zendō eingesteckt hatte, erhielt ich sie in kleine Stücke zerhackt in einem Umschlag mit der Post zurück.

Nach Ablauf des halben Jahres der verhängten Aussperrung rief ich den VV an, um ihm mitzuteilen, dass ich an diesem Abend zum Zazen käme. Er fing mich vor der Zendō ab und übergab mir einen Brief, in welchem er mir mitteilte, dass kein Jikijitsu mich jemals wieder in eine Sitzhalle der Gemeinschaft einlassen würde. Es hätte für die Verantwortlichen des Vereins einen letzten Rest von „Selbstachtung“ bedeutet, obgleich sie ihre eigene Satzung missachtet hatten, wenn sie mich nun – unter Einhaltung ihrer selbst aufgestellten Regeln und deshalb auch ohne Gesichtsverlust – wieder zum Zazen zugelassen hätten. Dann hätte ich meinerseits den ZM um ein Gespräch auf Augenhöhe gebeten und ihm den frei- und willigen Austritt angeboten.

So, immer noch zahlendes Vereinsmitglied, begann ich eine „Mahnwache“ vor der Zendō, genauer, auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schutz einer öffentlichen Bushaltestelle. Dort, allen sichtbar, gewaltfrei, ohne zu stören oder zu provozieren, übte ich zu jeder möglichen Sitzzeit in korrekter Haltung (im Stehen) Zazen. Niemand sollte später behaupten können, er hätte von nichts gewusst. Was ich nicht wusste und ohne diese Probe aufs Exempel auch nicht geglaubt hätte, war, dass sich in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung sozialisierte „mündige Bürger“ unwidersprochen einem (möglicherweise unausgesprochenen aber als verbindlich bekannten) Sprech- und Kontaktverbot fügen würden. Es genügte, dass der Meister, so meine heutige Information, mich als verrückt diffamierte, damit ausnahmslos alle ein halbes Jahr lang mit gesenkten Köpfen und möglichst auf der anderen Straßenseite an mir vorbeiliefen.

Anfang Dezember fand das alljährliche Rōhatsu statt. Ich hatte zweimal Rōhatsu in der Zendō gesessen. Nun, draußen im Schnee stehend, verstand ich, was „Darüberhinausgehen“ bedeuten kann. Während ein Teil meines Verstandes haderte, nicht in der fußbodenbeheizten Zendō in Gemeinschaft den Worten des Meisters zu lauschen, verbreitete dicht fallender Schnee in meinem Herzen eine tiefe, alles annehmen könnende Ruhe.

Es gab hier sogar einen Zen-Gefährten mit einem Keisaku. Als ich einmal allzu versunken stand, was auf der nächtlich entleerten Straße nicht ganz ungefährlich war, erhielt ich einen kurzen, starken Schlag auf die Schulter. Ein Eichhörnchen, vom Grundstück hinter mir kommend, hatte mich als Unterlage für einen Sprung auf die Straße genutzt. Dann verschwand es, Spuren im frisch gefallenen Schnee hinterlassend, im Vereinsgelände.
Nach Ende des Rōhatsu stand ich weiterhin fast täglich an meinem Übungsplatz. Vorbei gehende Anwohner und auf den Bus Wartende grüßten mich inzwischen freundlich, als ob sie verstünden, was hier vor sich ging. Es war auch vorgekommen, dass Nachbarn mir in einer besonders kalten Nacht heißen Tee angeboten hatten.

Im Januar, etwa ein Jahr nach dem Beginn der Mahnwachen-Aktion des Vereins, erhielt ich ein offizielles Schreiben der Vereinsleitung, worin mein Ausschluss aus dem Verein festgestellt wurde. Darin stand: „Diese Entscheidung wird von allen Mitgliedern der Gemeinschaft der Hauptzendō sowie allen Zweigzendō einstimmig ohne Gegenstimme und Enthaltung befürwortet.“

Nach diesem offiziellen Ausschluss hörte ich sofort mit dem Straßen-Zazen auf. Niemand sollte durch mein Verhalten in Versuchung geführt werden, nun scheinbar rechtmäßig, die Situation einseitig gewaltsam eskalieren zu lassen. Stattdessen schrieb ich, wie es die gesetzliche Regelung solcher Konfliktfälle vorsieht, einen offiziellen Widerspruch gegen den Ausschluss. Die Annahme der postalisch zugestellten Einschreibesendungen wurde zweimal durch den VV verweigert. Der dritte persönliche Übergabeversuch an den VV an dessen öffentlich zugänglichen Arbeitsplatz – in Anwesenheit der oben bereits genannten Freundin als Zeugin – wurde ebenfalls (lautstark) verweigert, durch Insistieren auf ein Hausverbot. Dabei versuchte ich nur, durch Einhaltung des gesetzlich vorgegebenen Prozedere, den ungesetzlichen Willkürakt meiner Aussperrung mittels eines korrekten Ausschluss- bzw. Austrittsverfahrens nachträglich rechtsgültig für beide Seiten zu legitimieren.

Nach der Beurteilung meines Anwaltes für Vereinsrecht waren sowohl die konstruierten, diffamierenden Ausschlussgründe, die fehlende aber vorgeschriebene Anhörung sowie die Verweigerung der Annahme des Widerspruchs für ein Zivilgerichtsverfahren mehr als ausreichend, um den Ausschluss aufzuheben.

Bis dahin war es mir möglich gewesen, ausschließlich im Geist gewaltfreier Aufklärung, auf Missstände zu zeigen. Eine Vereinigung, in der Grundrechte mit Gesetzesgewalt durchgesetzt werden müssen, disqualifiziert sich selbst. Es war schon damals klar, dass diese Gruppe langfristig keine Zukunft haben wird. Wenn Menschen gegen ihr besseres Wissen und Wollen dazu missbraucht werden, Willkürentscheidungen auf rechtlich zweifelhaftem Weg mitzutragen und durchzusetzen, wird früher oder später eine „Abstimmung mit den Füßen“ das Problem lösen.

Nachdem ich damals endgültig losgelassen hatte, informierte ich die Sektenstelle des Senats über die problematischen Praktiken der Gruppe, doch dort interessierte sich niemand dafür. Deshalb danke ich den Verantwortlichen des Internetportals “buddhistische Sekten“ und dem Blogadministrator für dieses Forum.
Mein Anliegen mit diesem Erfahrungsbericht ist es auch, die Bereitstellung eines Internetportals als öffentlichen „Vereinscheck“ anzuregen, geführt z. B. durch eine Senatsstelle, noch besser durch das Amtsgericht des Vereinsregisters. Indem Gruppierungen durch die Rechtsform eines eingetragenen (oder sogar gemeinnützigen) Vereins steuerliche Vergünstigungen in Anspruch nehmen, sollten sie sich auch öffentlicher Kontrolle unterziehen lassen. So wie es heute Foren für Klinikbewertungen ehemaligen Patienten ermöglichen, ihre Erfahrungen bei Nennung der Kliniknamen ungefährdet kommunizieren zu können, sollte dies auch für Vereine möglich sein.
Transparenz und Überprüfbarkeit sind die beste Prophylaxe gegen die Herausbildung sektenartiger Strukturen und gegen den fortgesetzten Missbrauch der Gesetze einer freiheitlich demokratischen Grundordnung.



Kein Einstieg, kein Ausstieg: Erfahrungen in einem buddhistischen Zen-Verein
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Ein Gedanke zu „Kein Einstieg, kein Ausstieg: Erfahrungen in einem buddhistischen Zen-Verein

  • 17. Juli 2012 um 12:32 Uhr
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    Vielen Dank für deinen offenen Bericht. Viele hätten sich vielleicht schnell abgewendet, aber du hast dich der Ungerechtigkeit entgegengestemmt. Zen ist nichts exklusives. Es ist Alltagsgeist. Jeder hat sie bereits, die Buddha-Natur. Dieser Meister erhöht sich selbst und verliert alles. Welch Hybris, welch Klischee, welch Verachtung.

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